Per Anhalter durch meine Galaxis - Gedanken und Geschichten nicht nur von dieser Welt

"The following statement is false:
The previous statement is true.
Welcome to our corner of the universe

Anonymous
Seefra Denizen
CY 10210"
(Andromeda: The Past is Prolix)

Sonntag, 16. Juli 2017

Das K-Wort - eine neue Vokabel im persönlichen Wörterbuch

Not sure I understand
This role I’ve been given.
I sit and talk to God
And he just laughs at my plans.
My head speaks a language
I don’t understand.
- Feel, Robbie Williams


Das K-Wort – eine neue Vokabel im persönlichen Wörterbuch

Ich beobachte ein Büschel Hundehaare, das in unvorhersehbaren Bahnen vom Wind durch unseren Garten getragen und getrieben wird, nachdem sich unser Golden Retriever in blanker Lebensfreude auf der Wiese gewälzt hat.
Das bin ich – dieses Büschel Haare, ein Blatt im Wind, eine Kerze im Sturm. Vom Leben, vom Schicksal, von was oder wem auch immer mal eben in eine unvorhergesehene Richtung gejagt. Und dann in die andere. Wie es halt beliebt. Aber nicht, wie es mir beliebt!

„Hier ist etwas Neues auf dem Röntgenbild, das vor zwei Jahren noch nicht da war.“
Die Worte des Gynäkologen nach der Vorsorge-Mammographie, die mir imaginäres heißes Öl durch die Adern schießen!
Sofort werde ich gebeten, noch einmal Platz zu nehmen – Ultraschall. Da ist er wieder zu sehen, mein Untermieter, der ungefragt und ohne Miete zu zahlen sich eingeschlichen hat, ohne dass ich etwas gemerkt oder geahnt hätte.
Auch tastbar ist er jetzt. Jetzt wo man weiß, wo man suchen muss.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Das wird wieder gut.“ Ach ja? Danke.
Warum glaube ich das nicht so einfach? Warum ist der Optimismus des Arztes nicht ansteckend? Warum Habe ich das Gefühl, gerade gar nicht in meinem Körper zu stecken, sondern daneben zu stehen und alles von außen zu beobachten?
Die Daten, Werte, griechischen und lateinischen Begriffe, die der Arzt seiner Assistentin diktiert, erreichen mich durch einen Helm aus Watte. Ich weiß nur noch, er bestellt mich für den nächsten Morgen um halb acht zur Biopsie zurück in seine Praxis.
Warum muss das so schnell gehen? Er hat doch gesagt, es wird wieder gut?
„Ab Montag sind wir 2 Wochen in Urlaub.“
Ach so. Deshalb.
Und es werden mir Begriffe um die Ohren geschlagen „Operation, Bestrahlung, Anti-Hormontherapie …“

Ich schreie, tobe, weine nicht. Wie durch Wackelpudding gehe ich ruhig zurück zu meinem Auto. Überhaupt kommen die Tränen nur spärlich. Hätte ich nicht gedacht.
Ohnehin hatte ich mir den Vormittag anders vorgestellt.

Ich trage ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift „Keep Calm and Carry On My Wayward Son“. Eine Anspielung auf die erste Bürgerpflicht zum Ruhebewahren, egal, was passiert. Und auf eine meiner Lieblingsserien – Supernatural.
Ich habe auch ein Shirt daheim, das mir einschärft „Always Keep Fighting!“ Eine von Jared Padelecki iniziierte Kampagne, dass man trotz Depressionen weder sich noch alles andere aufgeben soll. Schon gar nicht die Hoffnung.
Und den Kampf.

Ich hatte immer gehofft, die Depressionen wären das schlimmste, was mir medizinisch passieren würde. Aber eine einzelne potentiell tödliche Krankheit reicht wohl eben doch nicht.
Danke für’s ins-Gesicht-Furzen, Schicksal, bekacktes!!!

Zuhause kommen dann doch endlich die Tränen, als ich meiner Perle, die mir einmal in der Woche beim Saubermachen hilft, davon erzähle.
Eine Umarmung, die so gut tut.
Und schon bin ich froh über die Entscheidung, die ich bereits auf diesem ersten Heimweg nach der Diagnose getroffen habe. Ich stand vor dem ersten von vielen Scheidewegen. Die Frage, die sich in diesem Fall stellte, war die, wie ich damit umgehen wollte. Behalte ich es für mich, oder gehe ich offen damit um?
Ein offener Umgang hatte mir schon bei den Depressionen geholfen. Ich war nicht nur offener zu anderen, sondern damit auch zu mir selber. Und ehrlicher.
Nicht jeder, dem ich schon mal sagte, „Leute, mir geht es heute nicht gut. Ich kümmere mich um (füge beliebiges Thema hier ein), sobald ich wieder fit bin,“ hatte dafür auch Verständnis. Klar. Depressionen sind für Nicht-Betroffene im wahrsten Sinne des Wortes sehr oft un-be-greif-bar. Aber irgendwann hatte ich den Punkt erreicht, an dem ich das fehlende Verständnis anderer Leute nicht mehr als mein eigenes, sondern deren Problem gesehen habe. Vielleicht hat meine Offenheit ja dazu auch beigetragen. Möglich wäre es.

Dazu kommt natürlich die kleine Tatsache, dass ich durch meine kommunalpolitische Rolle in unserem Dörfchen eine Art öffentliche Person bin. Erinnert Ihr Euch noch, als kurz nach dem Börsengang von Borussia Dortmund bei Heiko Herrlich ein Gehirntumor festgestellt wurde? Da hieß es, die Aktionäre hätte ein Recht darauf, das zu erfahren.
Gruselig.

Aber es würde definitiv auffallen, wenn ich plötzlich von der Bildfläche verschwinde – für Krankenhausaufenthalt und Nachbehandlungen – ohne eine Erklärung. Daran merkt man, dass man sich vorher doch ein wenig zu sehr reingehängt hat.
Da fehle ich plötzlich beim Dorfstammtisch, schicke meinen Stellvertreter zu den Gemeinderatssitzungen und meine Freundin auf die Gassigänge mit meinem Hund! Spätestens bei letzterem würden die ersten Fragen laut. Und soll ich meine lieben Helfer und Vertreter dann bitten, irgendetwas Anderes zu sagen, als die Wahrheit? Viel zu anstrengend und kompliziert.

Den Nachmittag verbringe ich mit Recherchen im Internet. Bewusst entscheide ich mich aber dagegen, mir zu viel über das Thema Biopsie anzusehen. Wenn man da erst einmal Bilder im Kopf hat, wird man die so schnell nicht mehr los.

Was ich aber lese, ist die Aussage, dass vier von fünf gefundenen Knoten gutartig sind. Diesen Satz zitiere ich jedem gegenüber, mit dem ich an diesem Tag noch darüber rede.
Ich muss meinen Mann erreichen, der auf Dienstreise ist. Ich muss den Friseurtermin absagen, den ich am nächsten Morgen gehabt hätte. Spätestens hier hätte ich den Grund für die Absage verschweigen können, aber ganz oder gar nicht. Rumdrucksen finde ich blöd. Sie fragt mich, ob wir einen neuen Termin machen sollen, aber ich weiß ja gar nicht, wie es jetzt weitergeht. Die Zukunft ist im Augenblick mehr als nur „das unentdeckte Land“. Die kommenden Wochen liegen gerade dermaßen im Nebel, dass ich mich am liebsten irgendwo zusammenrollen und mich vor Weihnachten gar nicht mehr bewegen möchte.

Aber wie gesagt, vier von fünf sind gutartig. Mit dieser schwachen Hoffnung im Hinterkopf warte ich auf halb acht am nächsten Morgen …



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