Per Anhalter durch meine Galaxis - Gedanken und Geschichten nicht nur von dieser Welt

"The following statement is false:
The previous statement is true.
Welcome to our corner of the universe

Anonymous
Seefra Denizen
CY 10210"
(Andromeda: The Past is Prolix)

Sonntag, 3. Juni 2012

Sonntags-Pausen-Krimi 15: Barbaren

Barbaren

Mein Name ist Breadalbane. Travis Breadalbane.
    Ich bin der einsamste Mensch auf der Welt.
    Einerseits ist das korrekt, andererseits ist die Formulierung nicht ganz akkurat, da ich mich nicht auf der Welt befinde. Sondern auf Luna, dem einzigen Trabanten des dritten Planeten von Sol.
    Ich schreibe das Jahr Zwölf nach dem Vierten Großen Krieg.
    Vor dreizehn Jahren sind wir hier heraufgekommen, um den ersten Siedlern endgültig den Boden zu bereiten. Die Vorbereitungen waren fast abgeschlossen, die politische Lage schien stabilisiert. Wieder einmal.
    Wir hatten gehofft, dass wir aus dem Dritten Großen Krieg gelernt hätten. Wie wir auch gehofft hatten, aus den ersten beiden Großen Kriegen gelernt zu haben. Wie aus all denen davor. Aber wir waren und blieben Barbaren und würden es immer sein. Hätten wir es damals bis zum Mars geschafft, das hätte auch nichts geändert.
    Barbaren.

    Meine drei Kollegen und ich wurden vor dreizehn Jahren nach Luna geschickt. Als Ablösung für die Mannschaft vorher. Die letzten sechs Monate der Vorbereitung hätten vor uns gelegen. Dann sollten die Siedler kommen.
    Sie kamen nicht.
    Und wir blieben.
    Denn es war niemand mehr da, der uns hätte nach Hause holen können.
    Nach Hause.
    Sicher waren noch welche übrig geblieben. Aber das Siedlungsprogramm wurde eingestellt. Eine Woche bevor der erste Barbarenhäuptling seinen fetten Daumen auf das Lesefeld des Computers legte, um dem dritten Planeten endgültig den Garaus zu machen.
    Damit hatte er sich seinen Platz in der Geschichte gesichert. Ein großer Name, dessen man in Zukunft nicht ohne Schaudern gedenken würde.
    Berühmt ist er geworden. Berühmter als all die krieganzettelnden Barbaren vor ihm.
    Aber wer wird sich seiner erinnern?
    Was nützt es, sich einen Ruhm zu schaffen, indem man alle umbringt, die einen noch rühmen könnten?
    Das ist wie Robinson, der sich auf seiner Insel aus dem einzigen Baum ein Rettungsboot baut. Und dann muss er feststellen, nachdem er ihn gefällt und ausgehöhlt hat, dass der Baum zu weit von der Küste weg liegt. Und dass er alleine nicht stark genug ist, ihn zum Wasser zu ziehen.
    Wir hätten auf den Bäumen bleiben sollen.
    Oder in unseren Höhlen.
    Aber jetzt sitze ich hier auf Luna. In einer menschenleeren Riesenstadt.

    Magnabosco, Aron und Rossjanskij. Meine Kollegen. Nette Kerle. Mit Familie. So wie ich.
    Wir ließen alles und alle auf dem dritten Planeten zurück. In der Gewissheit, in einem halben Jahr alles wiederzubekommen. Alle wiederzusehen. Hier, auf Luna, unserem neuen, zukünftigen Zuhause.
    Dann hat der Barbarenhäuptling den Knopf gedrückt. Den Baum gefällt, auf dem wir alle saßen.
    Und alles war weg. Alle ... waren weg.
    Nur wir waren noch da. Hier, auf dem anderen Himmelskörper.
    Ich glaube, es waren zwei oder drei Tage, in denen wir nur dasaßen. Schwiegen. Löcher in die Wände unserer Unterkunft starrten.
    Uns blieb nichts weiter zu tun, als auf den Tod zu warten. Oder ein Wunder. Oder den Wahnsinn.

    Irgendwann erinnerte man sich an uns. Die paar, die auf dem Planeten noch lebten. Irgendwer verirrte sich in die Zentrale, legte ein paar virtuelle Hebel um, sprach ein paar Worte, drückte sein Bedauern aus.
    Keiner mehr da, der uns die Möglichkeit zur Rückkehr schaffen könnte. Keiner mehr da, der uns empfangen, begrüßen würde.
    Wir sollten uns glücklich schätzen, dass wir überleben dürften ...
    Wir hatten eine ganze lunare Stadt für uns. Sauerstoff, Vorräte für Einhunderttausend. Nur für uns Vier. Keine Verpflichtungen mehr, keine Regeln, keine Gesetze. Keine Zukunft.

    Rossjanskij verlor als erster den Verstand. Faselte irgendwas vom Bau einer Rakete, wie in alten Zeiten. Wollte zum Planeten zurück. Fing an, Zeichnungen an Wände zu kritzeln. Entwürfe, Berechnungen. Flugbahnkalkulationen.
    Aron fand ihn eines Morgens mit durchschnittener Kehle im Korridor zu Landerampe Drei.
    Als Aron nach einigen Tagen wieder klar denken konnte, wurde ihm bewusst, was ihn an dem Bild gestört hatte. Rossjanskij, auf dem Boden, in seinem Blut, die Augen verdreht, alle Viere von sich gestreckt.
    Und keinerlei Waffe, Messer, Nagelfeile, Schraubendreher in seiner Reichweite. Nichts, womit man sich selbst die Kehle hätte zerfetzen können. Nicht mal Fingernägel, die lang genug waren.
    Aron fing also an, zu behaupten, es sei kein Selbstmord gewesen. Einer von uns hätte Rossjanskij umgebracht.
    Er quatschte von nichts Anderem mehr. Wurde besessen von dem Gedanken. Schloss sich in seinem Quartier ein. Kam nur heraus, um seine Vorräte aufzufüllen.
    Magnabosco und ich hielten aber trotzdem ein wachsames Auge auf Aron. Wer konnte denn dafür garantieren, dass er Rossjanskij nicht selbst abgeschlachtet hatte, in seinem Wahnsinn?
    Und ich behielt Magnabosco im Auge.
    Nicht wachsam genug allerdings, wie sich irgendwann herausstellte.

    Eines nachts hatte ich Aron wieder einmal irre kichernd durch die Korridore rennen hören, auf dem Weg zu einem der Vorratshangars. Ich stand leise auf und überprüfte die Verriegelung meines Quartiers, was eigentlich nicht nötig gewesen wäre, weil ich, seitdem Rossjanskij verreckt war, immer darauf achtete, dass mich niemand im Schlaf überraschen konnte.
    Auch diesmal war alles in Ordnung.
    Am nächsten Morgen signalisierte die Anzeige am Kontrollpult des Schaltraumes unserer Wohnebene einen Druckabfall im Vorratshangar. Eine Überprüfung ergab, dass der Hangar von außen verriegelt war, Druck und Sauerstoff standen auf Null.
    Zuerst dachten Magnobosco und ich daran, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Den Hangar komplett versiegeln und unsere Vorräte zukünftig aus einer der anderen Ebenen zu holen, vielleicht sogar die Wohnebene komplett zu verlassen.
    Aber im Weltraum will man keine undichten Stellen an irgendeiner Außenwand seines Lebensraumes haben. Also zogen wir unsere Raumanzüge an, schlossen die Luftschleusen um den Hangar und öffneten ihn.

    Aron lag innen am Schott, mit weit geöffnetem Mund, aufgerissenen Augen, Lebensmittel um sich verstreut. Überhaupt ein gewaltiges Chaos im gesamten Hangar. Er hatte wohl mitbekommen, dass mit Sauerstoff und Druck etwas nicht stimmte und das Leck gesucht. Warum war er nicht einfach abgehauen? Weil der Hangar nicht von innen geöffnet werden konnte, wenn das Schott erst einmal geschlossen war. Und es gab eine ausreichende Sicherung, dass sich das Schott nicht aus Versehen schloss, um eben solche Unfälle zu vermeiden. Obwohl es eigentlich ursprünglich ja gar nicht vorgesehen war, dass sich Personen alleine im oder in der Nähe des Hangars aufhielten. Mittlerweile hätte es ja hier von Siedlern wimmeln sollen ....

    Das Hangarschott war also von außen geschlossen worden, als Aron drin war!
    Wir stellten den Normaldruck wieder her, fluteten den Hangar mit Sauerstoff und überprüften die Anzeigen. Sie erreichten Normalstand. Wir warteten und beobachteten. Keine Veränderung mehr.
    Es gab kein Leck.
    Jemand hatte den Hangar von außen manuell entlüftet, nachdem er Aron darin eingesperrt hatte!

    Magnabosco und ich starrten einander an.
    Lange.
    Dann, ohne den Blick vom anderen anzuwenden, gingen wir zu den Ausgängen des Schaltraumes, die in entgegengesetzten Richtungen voneinander lagen.

    Ich schloss mich in meinem Quartier ein. Zum letzten Mal. Ich packte meine Habseligkeiten in ein paar Taschen und schlich davon.
    Stundenlang wanderte ich durch die leere Stadt und suchte mir eine andere Wohnebene aus, weit entfernt von der alten. Ich nahm an, dass Magnabosco das Gleiche tun würde und hoffte nur, dass sein neuer Wohnort nicht zu nah an meinem liegen würde.
    Wären wir auf diese Idee schon früher gekommen, direkt nach der Sache mit Rossjanskij, dann hatte es möglicherweise Aron nicht auch noch erwischt.

    Als ich einen neuen Vorratshangar gefunden hatte, sicherte ich den dazugehörigen Schaltraum durch mehrere Kodierungen. Auch die Kontrollzentrale für die Belüftung der Quartiere sicherte ich. Schließlich wollte ich nicht eines nachts im Schlaf von eingeleitetem CO2 oder Ähnlichem erstickt werden.
    Ich stellte Bewegungsmelder auf und überwachte sie zentral von meiner eigenen Unterkunft aus.

    In der Tat vergingen einige Jahre, ohne dass ich von Magnabosco gestört wurde. Ich nutzte die Zeit, um mich der umfangreichen Text-, Bild-, Video- und Audio-Bibliothek zu widmen, die die Zuständigen zum Glück bereits in die lunaren Datenbanken geladen hatten, bevor der Barbarenhäuptling auf dem dritten Planeten durchgedreht war.
    Außerdem hatte ich mir ein ansehnliches Waffenarsenal zugelegt. Zwar alles Marke Eigenbau, aber im Notfall effektiv. Ich war stolz darauf. Wie jeder andere kleine Barbar es gewesen wäre.
    Und ich hatte mein Bewegungsmeldernetzwerk ziemlich stattlich erweitert und verbessert. Ich arbeitete bereits an der Entwicklung von Selbstschussvorrichtungen und hatte auf der gesamten Wohnebene Überwachungskameras installiert.

    Vor ungefähr drei Monaten riss mich das Alarmsignal meiner Bewegungsmelder aus dem Schlaf.
    Magnabosco!
    Hatte er nach mir gesucht, oder war er zufällig hierher geraten? Wenn er mich gesucht hätte, wäre es der bequemere Weg gewesen, das elektronische Kommunikationssystem in Gang zu setzen und auf Antwort zu warten. Aber nur, wenn er gewollt hätte, dass ich etwas von seiner Suche nach mir mitbekomme! Zum Glück lag das Überraschungsmoment auf meiner Seite.
    Ich schwang mich geräuschlos aus dem Bett und schnappte mir zwei handliche Waffen. Auf keinem der Monitore meiner Überwachungskameras konnte ich ihn entdecken. Dieser gewiefte Hund! Wollte er sich doch tatsächlich an mich heranschleichen.

    Wir belauerten einander. Tagelang. Wochenlang. Immer wieder schlugen meine Bewegungsmelder Alarm. Immer wieder zeigten meine Kameramonitore ... nichts. Der Schlafmangel fing schon an, mir zuzusetzen.

    Aber lange werde ich mir darüber keine Gedanken mehr machen müssen.

    Das Schlimme war nicht der Anblick von Magnabosco, wie er da vor drei Tagen im Korridor zum Schaltraum lag, mit gebrochenem Genick und eingeschlagenem Schädel. Ich fragte mich unwillkürlich, was von beidem wohl die Todesursache gewesen war. Als ob das noch eine Rolle spielte.

    Auch nicht das Blut, mit dem meine Hände und meine Kleidung natürlich beschmiert waren, weil ich ihn ja herumgedreht hatte. Oder die Tatsache, dass das kleine Beil, das ihm zwischen den Augen steckte, die Inventarnummer meines jetzigen Quartiers trug ...

    Das wirklich Schlimme waren zum einen die Buchstaben an den Wänden. Wörter. Ich trat zurück, um den Sinn zu erfassen.
    Nicht.
    Allein.
    Den dicken schwarzen Permanentmarker hielt Magnabosco immer noch in der Faust.
    Ich drehte mich herum.
    Überall sah ich es.
    Ich fing an, die Korridore entlang zu laufen. Die Freizeit- und Einkaufspassagen. Wände. Schaufensterscheiben.
    Überall:
    Nicht.
    Allein.

    Er war offensichtlich durch die gesamte Stadt gelaufen. Stellenweise lag ein Marker ohne Kappe mitten auf dem Weg. Wieviele davon hatte er wohl leergeschrieben? Und was hatte er nur damit gemeint? Vermutlich war er einfach nur irre geworden, wie die anderen beiden Barbaren vor ihm.

    Ich ging zurück und wickelte Magnabosco in ein Laken. Dann schob ich ihn in eine der Abfallentsorgungsschleusen und schoss ihn ins Vakuum hinaus.

    Heute - und DAS macht mir jetzt wirklich zu schaffen - habe ich verstanden, was Magnaboscos Worte bedeuteten.

    Als ich, Travis Breadalbane, der einsamste Mensch auf der Welt, der letzte Überlebende des Luna-Kolonisations-Programmes, im Jahr Zwölf nach dem Vierten Großen Krieg ein letztes Mal von meinem Bewegungsmelder aus dem Schlaf gerissen wurde!



Copyright Esther Koch 01. Juni 2012

Keine Kommentare: